Saturday, August 01, 2015

Habermas: The German reaction was shameful

A German version of an interview with Jürgen Habermas in the weekly French news magazine "L'Obs" (July 30, 2015):

"Die Reaktion der deutschen Regierung war schändlich"

The interview was conducted by Odile Benyahia-Kouider.

Excerpt

Q: Meinungsumfragen zeigen, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen den Positionen der Bundesregierung von Angela Merkel zustimmt, obwohl die Verhandlungen für Griechenlands Regierung erniedrigend waren. Bedeutet das, die Deutschen haben an Europa als einem politischen Projekt kein Interesse mehr?

A: Was erwarten Sie von einer Bevölkerung, die von ihren Regierungen nie ernsthaft mit europäischen Fragen konfrontiert worden ist? Bei uns gibt es ein Sprichwort: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Die Europapolitik, die von Anbeginn über die Köpfe unserer Bevölkerungen hinweg betrieben worden ist, ist das Paradebeispiel für den allgemeinen Trend einer Austrocknung der politischen Öffentlichkeit. Regierungen, die ihre Wähler eher einlullen als aufscheuchen möchten, werden von einer Presse unterstützt, die lieber Kunden betreut statt Konflikte aufzugreifen und aufzuklären. Die deutschen Wähler haben von der Krisenpolitik der letzten Jahre Schlagworte wie "Solidarität gegen Solidität" im Ohr. Ihnen ist das Gefühl gegeben worden, dass sie die Kanzlerin, die ihr Geld zusammenhält, nur machen lassen sollen. Die CDU hat die sogenannte "Transferunion" zum Schreckgespenst aufgeplustert; und jetzt haben alle Parteien Angst, diese selbstgebastelte Hürde zu nehmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat soeben noch vor dem Bundestag ihr Mantra wiederholt: "Mit mir wird es keinen Schuldenschnitt geben". Dabei weiß sie so gut wie der IWF, dass eine zügige Rekonstruktion der griechischen Schulden ganz unvermeidlich ist. Statt ihren Wählern unangenehme politische Alternativen zu erklären, kaufen die politischen Eliten Zeit mit Milliardenkrediten.
Lassen Sie mich auf Ihre Frage zurückkommen. Abgesehen davon, dass die verteufelten Transfers längst stattfinden, gibt es durchaus empirische Anhaltspunkte dafür, dass eine hartnäckige, informierte öffentliche Debatte über die Notwendigkeiten und die längerfristigen Vorteile einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland zu einem Meinungsumschwung führen können.

Q: Hat diese griechische Krise gezeigt, dass die EU ohne politische Einheit nicht überleben wird?

A: Ja, ohne die zusammenführenden Kräfte einer politischen Union werden unsere nationalen Wirtschaften weiter auseinanderdriften. Die europäische Währungsgemeinschaft ist zu heterogen zusammengesetzt. Wir können deshalb nur noch zurück- oder vorangehen. "Der Stillstand ist der Tod", sagt ein Filmtitel meines Freundes Alexander Kluge. Ich glaube, dass die Auflösung der Eurozone wohl nur als Konsequenz einer  unbeabsichtigten Kettenreaktion eintreten könnte. Dann müsste gerade die Linke für das Zurück zum Nationalstaat einen hohen Preis zahlen. Denn ohne eine supranational handlungsfähige Euro-Union müsste sie jede Hoffnung auf eine politische Reregulierung der aus dem Ruder gelaufenen Finanzwirtschaft fahren lassen. Aber auch der andere Weg ist riskant. Starke Interessen zielen auf eine technokratische Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion, die ohne demokratische Geräusche Marktimperative geräuschlos umsetzt. Daher wird alles darauf ankommen, dem Europäischen Parlament die gleichen Rechte einzuräumen wie dem Rat. Das funktioniert wiederum nur, wenn es gelingt, ein europaweites Parteiensystem aufzubauen und die Bevölkerungen selbst in einen politischen Prozess einzubeziehen, der bisher an ihnen vorbeiläuft. Vor wenigen Wochen haben der französische und der deutsche Wirtschaftsminister, Macron und Gabriel, ein Papier lanciert, das in dieser Hinsicht doch noch sehr ambivalent ist. Ein "europäischer Finanzminister" ist keine Lösung.


See the French translation of the interview in "L'Obs": "La réaction abrupte de l'Allemagne a été indigne". 

See also Gregor Dotzauer's article on Habermas in "Der Tagesspiegel" (July 31, 2015): "Der deutsche Deutschen-Kritiker".

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