Thursday, July 07, 2016

Habermas on Brexit and the future of Europe [updated]



A new interview with Jürgen Habermas in "Die Zeit" (July 7, 2016)

"Die Spieler treten ab" [full text now online]


An English translation is available here: "The Players Resign - Core Europe to the Rescue"

Excerpts from the German version:

DIE ZEIT: Herr Habermas, hätten Sie den Brexit jemals für möglich gehalten? Was empfanden Sie, als Sie vom Erfolg der Leave-Kampagne erfuhren?

HABERMAS: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Populismus den Kapitalismus in dessen Ursprungsland schlagen würde. Angesichts der existenziellen Bedeutung des Bankensektors für Grossbritannien und im Hinblick auf die Medienmacht und politische Durchsetzungsfähigkeit der City of London war es unwahrscheinlich, dass sich Identitätsfragen gegen Interesselagen durchsetzen würden. (......)

Die Briten haben eine andere Geschichte im Rücken als der Kontinent. Das politische Bewusstsein einer Grossmacht, die im 20. Jahrhundert zweimal siegreich war, aber weltpolitisch im Abstieg begriffen ist, arrangiert sich mit der veränderten Lage nicht ohne Verzögerung. Mit diesem nationalen Selbstverständnis ist Grossbritannien in eine missliche Situation geraten, nachdem es 1973 allein aus ökonomischen Gründen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten war. (......)

Die Briten hatten eine entschieden marktliberale Vorstellung von der EU als einer Freihandelszone, und die fand Ausdruck in einer Politik der Erweitung der EU ohne gleichzeitige Vertiefung der Kooperation. Die ausschlisslich instrumentelle Einstellung der politischen Eliten gegenüber der EU hat sich noch im Wahlkampf des Remain-Lagers widergespiegelt. (......)

DIE ZEIT: Warum steht plötzlich nationale Identität gegen europäische Integration? Haben die Europapolitiker die Sprengkraft des nationalen und kulturellen Eigensinns unterschätzt?

HABERMAS: (......) Nicht nur das gegensätzliche Wahlverhalten auf dem Land und in den Städten, auch die geografische Verteilung der Exit-Stimmen (.....) sprechen für die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Brexit. Die Wahrnehmung der drastisch gewachsenen sozialen Ungleichheit und das Gefühl der Ohnmacht, dass die eigenen Interessen auf der politischen Ebene nicht mehr repräsentiert werden, schaffen den Motivationshintergrund für die Mobilisierung gegen Fremde, die Abkehr von Europa, den Hass auf Brüssel. Für eine verunsicherte Alltagswelt bilden der "nationale und kulturellen Eigensinn", wie Sie sagen, stabilisierende Pfeiler.  


DIE ZEIT: Sind es wirklich nur soziale Fragen? Es gibt doch nachgerade einen historischen Trend zu nationaler Selbsthilfe und die Absage an Kooperation. Supranationalität bedeutet für die Bürger Kontrolverlust. Sie glauben: Nur die Nation sei der Fels, auf den sie bauen können. Beweist das nicht, dass die Transformation von nationaler in transnationale Demokratie gescheitert ist"

HABERMAS: Ein Versuch, den man gar nicht erst unternimmt, kann nicht gescheitert sein. Gewiss, der Ruf nach "Take back control", der ja im britischen Wahlkamp eine Rolle gespielt hat, ist ein Symptom, das man ernst nehmen muss. Dem Beobachter hat sich die offensichtliche Irrationalität nicht nur des Ergebnisses dieser Wahl, sondern des Wahlkampfes selber aufgedrängt. Auch auf dem Kontinent nehmen die Hasskampagnen zu. Die Sozialpathologischen Züge einer politisch enthemmten Aggresivität deuten darauf hin, dass die alles durchdringenden systemischen Zwänge einer ungesteuert ökonomisch und digital zusammenwachsenden Weltgesellschaft die Formen der sozialen Integration überfordern, die im Nationalstaat demokratisch eingespielt waren. Das löst Regressionen aus. (......)

Eine transnationalisierung der Demokratie wäre (.....) die richtige Antwort. Auf andere Weise ist in einer hoch interdependenten Weltgesellschaft der beklagte und tatsächliche eingetretene Kontrollverlust, den die Bürgern empfinden, nicht wettzumachen. (.....)


DIE ZEIT: Wie kann man sich eine Vertiefung der Union vorstellen, ohne dass die Bürger einen weiteren demokratischen Kontrolverlust fürchten müssen? (......)

HABERMAS: Die Einberufung eines Konvents, der zu grossen Vertragsänderungen und Referenden führen müsste, käme erst infrage, wenn EU ihre dringendsten Probleme wahrnehmbar und auf überzeugende Weise angepackt hat. Die nach wie vor ungelöste Euro-krise, das langfristige Flüchtlingsproblem und die aktuellen Sicherheitsfragen werden jetzt als drängende Probleme genannt. Aber schon deren Beschreibung ist in der kakofonen Runde der 27 Mitglieder des Europäischen Rates nicht konsensfähig. Kompromisse sind nur unter kompromissbereiten Partnern möglich, und dafür dürfen die Interesselagen nicht zu weit auseinandergehen. Dieses Mindestmass an Interessekonvergenz ist bestenfalls von den Mitgliedern der Europäischen Währungsgemeinschaft zu erwarten. Das Krisenschicksal der gemeinsamen Währung, dessen Ursachen von der Wissenschaft übrigens gut analysiert worden sind, kettet dieser Länder schon seit Jahren, wenn auch auf asymmetrische Weise, eng aneinander. Deshalb bietet sich die Euro-Zone als natürliche Definition für den gegebenen Umfang eines künftigen Kerneuropas an. Wenn diese Länder den politischen Willen hätten, würde der in den Verträgen vorgesehene Grundsatz der "Engeren Zusammenarbeit" die ersten Schritte zur Ausdifferenzierung eines solchen Kerns erlauben - auch die längst überfällige Bildung eines Pendants zur Euro-Gruppe des Rates innerhalb des Europäischen Parlamentes.
 
 
 

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